In der Freien Presse am 12. November 2023:
Langjährig gewachsene Tradition mit Innovation und hoher Qualität zu verbinden ist nicht immer einfach. Neue Konzertformate können ein Element sein, das Publikum nach Corona wieder und neu für sich zu gewinnen, und nachdem es in der vergangenen Saison bereits ein Kinderkonzert zum Mitmachen und ein moderiertes Filmmusik-Konzert gab, wagte sich Alexander Mottok mit dem Sinfonieorchester am Ernst-Barlach-Gymnasium zur Saisoneröffnung an eine völlig neue Form heran: eine halbszenische Werkeinführung zu Schuberts Großer C-Dur-Sinfonie, nicht als Zusatzveranstaltung, sondern mitten im Konzert!
Wo hat man in einem Sinfoniekonzert schon mal Robert Schumann mit Ferdinand Schubert Wein trinken und Partituren austauschen sehen, wo wurde man Zeuge einer Uraufführung durch Mendelssohn persönlich, und wo konnte man sich dem Werk selbst über die hörbaren Gedanken und Assoziationen einer Schülerin (wunderbar: Luise Marcello/Paulina Meder) nähern, die gerade eine Klausur schreibt, unterstützt von Hörbeispielen des Orchesters und Visualisierungen und Notenbeispielen auf den Projektionsflächen? Die von Schülern und dem Lehrerteam gestaltete „Werkeinführung“ war Infotainment im allerbesten Sinne, und man durfte staunen, wie homogen sich dieses Element nach der fulminanten Eröffnung durch die „Karneval“-Ouvertüre von Antonín Dvořák in den Konzertabend einschmiegte.
Geradezu brachial hatte sich zu Beginn diese Ouvertüre den Weg in die Petruskirche gebrochen, mit überschäumenden Kapriolen und vereinzelten nachdenklichen Passagen. Das Orchester durfte hier strahlen, unbändige Energie entfalten und sich erfolgreich den erheblichen technischen Ansprüchen von Dvořáks Werk stellen, das passend zum Datum das Kieler Publikum fulminant daran erinnerte, dass Karnevalsbeginn war.
Nach der Pause durfte man dann die Große C-Dur-Sinfonie von Franz Schubert nunmehr ohne Unterbrechung in ihrer ganzen, wie Schumann schrieb, „himmlischen Länge“ erleben. Das Orchester erweckte nicht nur die zuvor beschriebenen Dialoge und die zahlreichen vielfarbigen Themenelemente zum Leben, es verzauberte das Publikum mit wunderbaren Bläsersoli, zupackender Streicherprägnanz und langen Spannungsbögen speziell im zweiten Satz, dessen Magie mit großem Atem und erstaunlich schlüssiger gemeinsamer Agogik ausgeleuchtet wurde. Dass das über einstündige Werk, das auch für Profiorchester eine Herausforderung ist, gegen Ende mit vereinzelten Wacklern die Grenzen der Kondition der jungen Musikerinnen und Musiker auslotete, fiel im Gesamtbild nicht ins Gewicht. Was nach einer dunkelbunten Herbstlied-Zugabe blieb, war Begeisterung und ein bereichertes Gefühl beim weiterhin immer zahlreicher werdenden Publikum in der Kieler Petruskirche. Nach der Großen C-Dur-Sinfonie steht als nächstes die nicht minder große „Schöpfung“ von Joseph Haydn auf dem Programm – man darf gespannt sein!
Nils Lindquist (freie Presse)